Lernmodell 70-20-10: Mythos oder Erfolgsrezept im Unternehmensalltag?
Modelle sind beliebt – vor allem, wenn sie komplexe Dinge einfach erklären. Die 70-20-10-Regel gehört zu den Dauerbrennern in der Personalentwicklung: Sie behauptet, dass Mitarbeiter 70 % ihres Wissens im Job selbst, 20 % durch Austausch mit anderen und nur 10 % durch klassische Trainings erwerben. Klingt eingängig. Aber stimmt das – und taugt das Modell wirklich für die Praxis in Unternehmen im deutschsprachigen Raum?
Woher kommt die 70-20-10-Formel?
Die Wurzeln liegen in den 1980er-Jahren beim Center for Creative Leadership (CCL) in den USA. Forscher wie Morgan McCall, Robert W. Eichinger und Michael Lombardo befragten erfolgreiche Führungskräfte nach ihren Lernstrategien – das Ergebnis wurde zur Formel:
70 % Lernen durch Erfahrung, 20 % durch andere, 10 % durch Training.
Eine wissenschaftlich belastbare Grundlage? Fehlanzeige. Es handelte sich um Beobachtungen und Selbstauskünfte – keine experimentelle Studie. Trotzdem wurde das Modell zur festen Größe im Corporate Learning – auch, weil es einfach zu merken ist und wunderbar in PowerPoint-Präsentationen passt.
Warum das Modell so populär blieb
Gerade in Deutschland, Österreich und der Schweiz wird die Formel gern zitiert, wenn es um Kostendruck in der Weiterbildung geht: „Informelles Lernen ist doch wichtiger – Seminare brauchen wir weniger.“ Das klingt modern, spart Geld – und greift trotzdem zu kurz. Denn seit den 2000ern hat sich die Arbeitswelt rasant verändert:
- Digitalisierung und „Learning on Demand“ machen selbstgesteuertes Lernen leichter, E-Learning-Plattformen und digitale Lernbibliotheken (wie z. B. WEKA eCampus oder Elucydate Online Training) unterstützen die 70 % informelles Lernen, aber: ohne klare Lernkultur und strukturiertes Wissensmanagement funktioniert das Modell nicht.
- Informelles Lernen passiert nicht automatisch – und schon gar nicht im Vorbeigehen. Es braucht Raum, Feedback, Austausch, Führung und passende Tools.
2025: Was sagen aktuelle Studien und Experten?
In der DACH-Region wird die 70-20-10-Regel heute zunehmend kritisch, aber differenziert gesehen: Kein Dogma, sondern Orientierung.
Lernforscher betonen, dass die Anteile 70-20-10 keine festen Werte sind, sondern Richtgrößen. In manchen Branchen verschiebt sich das Verhältnis eher zu 50-30-20, besonders bei Wissensarbeit und Hybrid-Teams.
Lernen im Arbeitsfluss („Learning in the Flow of Work“) gilt als Weiterentwicklung. Dabei werden kurze, kontextsensitive Lerneinheiten direkt in Tools wie MS Teams, HubSpot oder Jira integriert – das stärkt den Praxisbezug und ersetzt teilweise das klassische Seminar.
Formales Lernen bleibt die Basis
Ohne strukturierte Einführung, Fachwissen oder rechtliche Grundlagen (z. B. Compliance- oder Sicherheitsunterweisungen) kann informelles Lernen gar nicht wirksam sein. KI-gestütztes Lernen verändert das Verhältnis erneut. Chatbots, adaptive Lernplattformen und Recommendation-Engines individualisieren Lernpfade und verschmelzen formales mit informellem Lernen.
Die fünf größten Denkfehler beim 70-20-10-Denken
1. „Man kann die drei Lernarten sauber trennen.“ In Wirklichkeit greifen sie ineinander: Im Training tauschen sich Teilnehmer aus (20 %), wenden an (70 %) und bekommen Input (10 %).
2. „Lernen ist immer gut und gleich wichtig.“ Nicht alles Gelernte zahlt auf Unternehmensziele ein. Strategische Lernziele brauchen Struktur – sonst versandet das Wissen.
3. „Alle Menschen lernen gleich.“ In der Praxis unterscheiden sich Lernstile massiv: vom Azubi über die Fachkraft bis zur Geschäftsleitung. Wer pauschal 70-20-10 ansetzt, ignoriert diese Vielfalt.
4. „Zehn Prozent formales Lernen sind vernachlässigbar.“ Falsch. Formale Trainings schaffen Orientierung, Sicherheit und Qualitätsstandards – besonders bei regulatorischen Themen (Arbeitssicherheit, Datenschutz, Informationssicherheit).
5. „In Seminaren wird nur gelernt.“ Seminare sind auch soziale Räume: Sie fördern Austausch, Vertrauen, Motivation – und stärken damit Unternehmenskultur.
Fazit: Lernen ist mehr als eine Formel
Die 70-20-10-Regel war ein Weckruf: Weg vom reinen Seminar-Denken, hin zu mehr Eigenverantwortung und Praxisnähe. Doch 2025 gilt mehr denn je: Lernen braucht Struktur UND Freiheit. Formales und informelles Lernen ergänzen sich – sie sind keine Gegensätze.
Für Unternehmen in der DACH-Region heißt das:
- Lernformate gezielt kombinieren,
- Führungskräfte als Lernvorbilder befähigen,
- Lernplattformen integrieren, die Austausch und Reflexion fördern,
- Lernziele an Unternehmensstrategien koppeln.
Oder, um es mit Aristoteles zu sagen: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“
Praxis-Tipp für Unternehmen
So kann 70-20-10 2025 wirklich funktionieren:
- 70 %: Projektbasiertes Lernen, Job-Rotation, Lern-Challenges im Arbeitsalltag
- 20 %: Mentoring, kollegiales Feedback, Peer-Learning-Formate
- 10 %: Online-Trainings, E-Learning, Blended-Learning-Programme
Erfolgreich ist, wer alle drei Ebenen intelligent verbindet – nicht, wer eine davon abschafft.
