Um sich in diesem Szenario zu behaupten, empfehle ich Personalverantwortlichen eine Vorgehensweise, bei der jede Interaktion im Bewerbungsprozess auf ihre Enttäuschungs-, Okay- und Begeisterungsfaktoren hin analysiert wird. Diese Methode habe ich in Anlehnung an das Kano-Modell von Noriaki Kano, Professor an der Universität Tokio, für die Personalarbeit weiterentwickelt. Dabei wird aus Sicht eines Bewerbers sondiert, was dieser erwartet und im Vergleich dazu erhält. Die Ergebnisse reichen von herber Enttäuschung bis zu hemmungsloser Begeisterung.
Am besten zeichnet man hierzu die „Reise“ eines Bewerbers durch den kompletten Bewerbungsprozess nach. Die entsprechenden Touchpoints - also die Kontaktpunkte zwischen Unternehmen und Kandidaten - können dabei in einem Schaubild eingetragen werden:
Dann bewertet man die einzelnen Punkte im Positiven beziehungsweise Negativen von null (trifft gar nicht zu) bis zehn (trifft voll und ganz zu). Selbstüberschätzung ist dabei eine große Gefahr. Um dieser Falle zu entgehen, bietet sich eine Selbstbild–Fremdbild–Analyse an. Dazu kann ein Teil der Bewertungen direkt von den Bewerbern oder frisch eingestellten Mitarbeitern kommen
Enttäuschungsfaktoren sondieren
Kommen die Enttäuschungsfaktoren zum Zuge, können Sie es sich mit Bewerbern sehr schnell verscherzen. Mit negativen Reaktionen ist vor allem dann zu rechnen, wenn es etwa herablassende Gesten oder verletzende Worte beziehungsweise unverhältnismäßige „Sendepausen“ oder nicht eingehaltene Versprechen gibt. In einem funktionierenden Bewerberprozess dürfen keine nennenswerten Enttäuschungen vorkommen. Sollten diese unumgänglich sein, braucht es eine nachvollziehbare Begründung, um wieder in den grünen Bereich zu gelangen.
Denn wenn ein Bewerber enttäuscht ist und bleibt, wird er Sie dafür bestrafen. Und die Liste seiner Möglichkeiten ist lang. Üble Nachrede ist eine davon. So kann es ihm gelingen, dass sich aus seinem Umfeld wirklich niemand mehr bei Ihnen bewirbt. Das tut er mit mehr oder weniger hohem Zerstörungsdrang. Sein Motiv? Rache! Vergeltung für empfundenes Unrecht! Solches Empfinden ist immer subjektiv – und es kann eine Menge Energie entfalten. Dabei wird zunehmend der Anwalt gewählt, der am meisten Druck machen kann: die digitale Öffentlichkeit.
Okay-Faktoren ermitteln
Wer über die Vermeidung von Unzufriedenheit hinauskommen will, muss an den Okay-Faktoren arbeiten. Diese bieten, im Gegensatz zu den Enttäuschungsfaktoren, zumindest die Chance, den Bewerber zufrieden zu stellen. Okay-Faktoren sind aus Sicht des Bewerbers betrachtet eine Selbstverständlichkeit. Dazu zählen Höflichkeit, Freundlichkeit, Verlässlichkeit, Fairness, Redlichkeit, Ehrlichkeit und viele weitere Tugenden. Sind solche Basics nicht erfüllt, rutscht man in die Enttäuschungszone. Und solange die Basics nicht stimmen, braucht man sich gar nicht an die Begeisterungsfaktoren heranzumachen. Die wirken dann nämlich nicht.
Demnach sind zunächst die Okay-Faktoren zu identifizieren. Und es ist dafür zu sorgen, dass zumindest das erwartete beziehungsweise als selbstverständlich erachtete Niveau immer erreicht werden kann. Dies nenne ich "die Null-Linie der Zufriedenheit". Was das genau ist? Das kommt auf den Bewerber und seine Wertewelt, auf seine Erwartungen an den Job und seine zukünftige Position im Unternehmen an. Jeder Mensch hat sein eigenes Wertesystem. Nie darf man deshalb von eigenen Präferenzen ausgehen.
Begeisterungsfaktoren finden
Die ergiebigste Kategorie im Bewerbungsprozess? Das sind die Begeisterungsfaktoren. Mit diesen kann man nur gewinnen. Ein Fehlen führt nicht zur Demotivation. Aber wenn Sie diese bieten, wird man Sie dafür lieben – und allen davon erzählen. Oft sind es Kleinigkeiten, die man so nicht erwartet hat, die zur Begeisterung führen. ‚The big little things‘ sagt Management-Vordenker Tom Peters dazu. Wir können gar nicht genug Aufmerksamkeit darauf lenken. Wer hingegen keine guten Gefühle verbreitet, muss tief in die Tasche greifen. Schmerzensgeld nennt man das dann.
Wie man zu Begeisterungsfaktoren kommt? Fragen Sie die involvierten Mitarbeiter - und denken Sie sich mutig ein paar verrückte Sachen aus. Oder besser noch: Fragen Sie die Bewerber. Dazu bieten sich fokussierende Fragen an. Diese bringen mit einer einzigen Frage die Sache auf den Punkt, und das geht so: „Was hätte Sie an diesem Punkt am meisten begeistert?“ Und wenn Sie aus der Enttäuschungszone herauskommen wollen, dann fragen Sie so: „Stellen Sie sich vor, Sie wären unser Unternehmensgewissen. Was würden Sie uns zu diesem Punkt sagen?“