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Simultan-Visualisierung

Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse in Projekten visualisieren und strukturieren

„Wenn ich Sie richtig verstehe, sagen Sie, dass ...“

Der Projektleiter beendet seine Powerpoint-Präsentation vor dem Lenkungsausschuss und bittet die Anwesenden um Fragen und Anmerkungen. Ein Bereichsleiter stellt eine Frage, die zeigt: Er teilt die Sicht des Projektleiters auf das Projekt nicht. Der Projektleiter versichert sich daraufhin, dass er die Frage richtig verstanden hat und stellt Anschlussfragen, um den Blickwinkel des Bereichsleiters zu ergründen. Dann wendet er sich mit den Worten „Wenn ich Sie richtig verstehe, sagen Sie, dass ...“ dem Flipchart zu und skizziert mit gekonnten Strichen in Wort und Bild die Sichtweise der Führungskraft. Sofort diskutiert die Runde lebhaft und ernsthaft anhand des spontan entworfenen Charts das Für und Wider der verschiedenen Sichtweisen – was den Projektleiter freut. Denn dies wollte er mit dem Einsatz der Methode des Simultan-Visualisierens erreichen.

Das Simultan-Visualisieren ist eine Methode der Gesprächsführung, bei der während des Dialogs unterstützende Visualisierungen zum Beispiel am Flipchart entstehen. Dabei sind den visuellen Ausdrucksmöglichkeiten keine Grenzen gesetzt. Man kann Worte (zum Beispiel Zitate, Sätze, Schlüsselbegriffe und Ziele) visualisieren, mit Farben spielen, Formen einsetzen (wie geometrische Figuren, Schraffuren, stilisierte Personen und Pfeile) und spontan Bilder zu Papier bringen. Dabei sollte jedoch der Bezug zum Gesprächsthema deutlich bleiben.


Eine wirkungsvolle Methode der Gesprächsführung

Diese Methode lässt sich wirkungsvoll in Meetings, Teamsitzungen und Workshops, aber auch Einzelgesprächen und Coachings nutzen. Denn dadurch, dass ansonsten flüchtige Gesprächsbeiträge festgehalten und für alle Beteiligten transparent gemacht werden, wird die Visualisierung zum Mittelpunkt des Gesprächsprozesses. Sie kann provozierend, erhellend, klärend, problematisierend oder auch konsensbildend wirken. Und dem Simultan-Visualisierenden, fortan schlicht Leiter genannt, dient das Simultan-Visualisieren unter anderem als Werkzeug zum Klären von Sachverhalten, Positionen, Strukturen und Beziehungen, sowie Erklären komplexer Sachverhalte.

Gute Simultan-Visualisierungen vermitteln Struktur. Sie beleben die Atmosphäre und Kreativität und fördern das Verständnis und die Akzeptanz. Der Dialogprozess gewinnt an Tiefe und Ernsthaftigkeit, und die Ergebnisse werden verbindlicher. Und das Tempo des Prozesses verlangsamt sich zugunsten dieser Palette von Vorteilen.

Damit erhalten speziell Leiter, die Prozesse ohne institutionelle Macht gestalten wollen, wie Projektleiter, Berater und Personalentwickler, eine leistungsfähige Methode der Gesprächsführung an die Hand. Und zugleich erledigt sich das Thema Protokollführung. Denn wirken die Teilnehmer am Entstehen der Visualisierungen mit, akzeptieren sie auch eine Fotodokumentation der Gesprächsergebnisse ohne Vorbehalte als Protokoll.


Die Methode in der Praxis anwenden

Für die Visualisierungen benötigt man zunächst ein Medium – zum Beispiel einen Flipchart. Und für eine ansprechende Gestaltung von ihnen geeignete Stifte. Stifte mit kantigen Spitzen ermöglichen es, kalligrafisch zu schreiben. Das Strichbild zeigt dann je nach Strichrichtung dickere oder dünnere Linien.

Die beim Simultan-Visualisieren genutzte Schrift ist als Moderationsschrift bekannt und beliebt wegen ihrer ansprechenden Wirkung. Der Preis dafür ist: Man muss sie lernen. Nach einer kurzen Einführung bedarf es aber meist nur einer gewissen Übung, bis ein Leiter zügig und gleichzeitig ansprechend schreiben kann. Dabei helfen folgende Empfehlungen:

  • Die Visualisierungen, soweit sinnvoll, zur Übung in Ruhe vor Beginn der Veranstaltung vorbereiten.
  • Nur in wenigen, ausgewählten Situationen im Gesprächsprozess simultan visualisieren.
  • Dem bildhaften Teil den Vorzug geben, Worte später ergänzen. Und:
  • Den Text vor dem Visualisieren „verdichten“ (Satz > Halbsatz > essentielles Wort).


Manche Personen scheuen Visualisierungen, weil es ihnen schwer fällt, spontan Bilder zu malen. Für sie gibt es einen Rettungsanker: die Formen. Neben den geometrischen Grundformen bieten „freiere“ Formen wie abgerundete Rechtecke, diverse Pfeile, Sprechblasen und bildhafte Formen wie eine stilisierte Waage zahlreiche Möglichkeiten der Visualisierung in Wort und Bild.

Beim Visualisieren von Menschen sind seriösere Darstellungen als Strichmännchen möglich: aus zwei oder drei Grundformen lassen sich plakative Darstellungen von Personen ableiten, denen man sogar Bewegung einhauchen kann. Mit ein paar Schattierungsschraffuren entstehen lebendig wirkende Personengruppen.

Vier Farben von Stiften genügen zum Simultan-Visualisieren, denn in der Führungs- und Projektarbeit sind keine Kunstwerke, sondern ansprechende Ergebnisdokumente gefragt. So lässt sich unter anderem die Symbolkraft der Farben nutzen: Verbindende Linien, die Zusammenhänge aufzeigen, können zum Beispiel geschwungen und grün dargestellt werden, so dass sie an Zweige erinnern. Rot eignet sich zum Transportieren emotionaler Botschaften und als Strukturfarbe für Tabellen. Professionell wirkt es, wenn der Leiter einen „Style Guide“ für seine Visualisierungen verinnerlicht hat. Das heißt: Er setzt Farben und Formen, dicke und dünne Stifte systematisch ein. Überschriften, Strukturelemente und Inhalte positioniert er nach einheitlichen Regeln. Das verschafft den Meeting-Teilnehmern Orientierung.


Gespräche spontan visualisierend führen

Wer ein Gespräch führen und zugleich visualisieren möchte, dem stellen sich einige „technische“ Fragen: Was, wann und wie visualisiere ich? Was, wann und wie rede ich? Und was mache ich mit der Gruppe, während ich visualisiere? Denn ein Gesprächsleiter, der zugleich simultan visualisiert, muss seine Aufmerksamkeit zwischen Flipchart und Gruppe teilen. Die höhere Komplexität führt bei Anfängern oft dazu, dass der Gesprächsprozess leidet. Das ist normal. Denn das Simultan-Visualisieren ist eine Multitasking-Methode, die zugleich die visuelle und auditive Ebene adressiert. Ihre flüssige Ausübung will erlernt sein.

Beim Visualisieren selbst gibt der Leiter den Blickkontakt mit seinen Gesprächspartnern auf. Erfahrungsgemäß schadet das dem Gesprächsprozess nicht, sofern die Visualisierung zügig erfolgt und das Gesagte treffend wiedergibt. Entscheidend ist, wie wertschätzend der Leiter mit der Gruppe und insbesondere schwierigen Personen umgeht. Hier sind Moderationsqualitäten gefragt. Gelingt es dem Leiter, immer wieder Einfühlungsvermögen in die unterschiedlichen Positionen der Gruppe zu zeigen (Allparteilichkeit), bewahrt er seine Autorität als Leiter. Das hat folgende Vorteile: Es wird eher toleriert, wenn er zum Visualisieren aus dem Kontakt geht, und er kann bei Bedarf direkter führen.

Sinnvoll ist es, die visuelle und die Gesprächsebene abwechselnd zu bedienen: Ein Ergebnisbeitrag wird zunächst erarbeitet; dann bringt der Leiter ihn im Gespräch mit der Gruppe so auf den Punkt, dass er sich visualisieren lässt. Der Leiter bereitet die Gruppe also auf das vor, was er visualisieren wird, und holt sich ihr Einverständnis ein. Danach visualisiert er, ohne zu reden.


Anforderungen an den „Moderator“

Um zur Visualisierung essenzieller Ergebnisbeiträge zu gelangen, braucht der Leiter zwei Fähigkeiten: Er muss wirksam fragen können, und Gesprächsbeiträge anderer auf den Punkt bringen können. In (Projekt-)Meetings stellen Leiter unbewusst oft geschlossene statt offene Fragen (also zum Beispiel „Ist das Ihre erste SAP-Einführung?“ statt „Welche Erfahrungen haben Sie mit SAP-Einführungen gemacht?“). Oder sie verketten Fragen. Oder sie türmen „Fragengebirge“ auf, statt zunächst die Antwort auf die erste Frage abzuwarten, bevor sie weitere stellen. Wirksam fragen heißt: eine knappe, klare offene Frage stellen und dann eine Pause machen. Eine wirksame Frage erkennt man daran, dass sie nachdenklich macht.

Der Leiter benötigt auch Techniken, um Gesprächsbeiträge anderer Personen für die Visualisierung auf den Punkt zu bringen – zum Beispiel, indem er umfängliche Redebeiträge umformuliert und zusammenzufasst. Indem er so die Qualität der Beiträge erhöht, trägt er wesentlich zu einem gelingenden Gruppenprozess bei. Vorsicht ist jedoch angebracht, wenn der Leiter eigene Interessen im Thema hat und seine persönliche Sichtweise einbringen möchte. Um den Verdacht der Manipulation zu entkräften, kann er die eigene Meinung auf einem anderen Flipchart visualisieren und sie neben den aus den Gruppenbeiträgen entwickelten Visualisierungen wirken lassen.

 

Checkliste: Gesprächsbeiträge auf den Punkt bringen

  • Geschlossene Fragen stellen, um das Okay für die Visualisierung einzuholen
  • Redebeiträge zusammenfassen; paraphrasieren
  • Präzisieren: knapp, klar, konkret
  • Zu persönlichen Aussagen („ich“) auffordern; Konjunktive („könnte“) und   Verallgemeinerungen („man“) vermeiden
  • Beiträge entpersonifiziert ans Flipchart „schreiben“
  • Bei Bedarf: polarisieren, simulieren, provozieren
  • Handlungsorientiert formulieren


Die 7 Schlüssel für ein erfolgreiches Simultan-Visualisieren

1.     Kontakt machen und halten

2.    Erkunden: den anderen dort abholen, wo er ist:
       - zuhören und einfühlen
       - die eigene Meinung für eine Weile zurückhalten
3.    Mit offenen Fragen nachfragen; zukunfts- und lösungsorientiert fragen
4.     Gesprächsbeiträge auf den Punkt bringen
5.    Zügig und ansprechend die „Essenz“ visualisieren
6.    Den Kontext beachten; wenn etwas geklärt oder transparent gemacht werden soll,    nachfragen
7.    Auf Rollenklarheit achten


Einige exemplarische Einsatzfelder

Für das Simultan-Visualisieren gibt es viele Einsatzmöglichkeiten. Ihr volles Potenzial entfaltet die Methode jedoch in Veränderungsprozessen, wenn sich die Struktur des Prozesses erst aus dem Prozessverlauf ergibt. Zu den strukturliefernden Visualisierungen zählen Prozessmodelle, die horizontal einen Prozess in Prozessschritte zerlegt visualisieren, und die vertikal die mit dem Prozessschritt verbundenen Tätigkeiten zeigen – eine klassische Prozess-Reengineering-Darstellung. Bei unbekannten Themen, oder wenn ein Thema erforscht werden soll, bietet sich eine Mind Map als Struktur an.

"Visualisierung der Bearbeitung eines „unbekannten“ Themas mit einer Mind Map sowie der Schritte eines Prozesses"

 

In Workshop- und Gruppensituationen eignet sich die Methode auch zum Arbeiten auf der Prozessebene. Wird es inhaltlich schwierig, liegt oft eine entsprechende Störung vor. Über eine treffende Visualisierung kann der Leiter die Diskussion auf diese Ebene „heben“ und so das Bearbeiten der Störung einleiten. Bei Konflikten kann der Leiter im Dialog mit der Gruppe zunächst die beteiligten Konfliktparteien herausarbeiten, die er dann anonymisiert (beispielsweise als gleich große Kreise mit unverfänglichen Namen wie A, B, C) simultan visualisiert. Danach fordert er die Parteien auf, konkrete Aspekte ihrer Positionen zu nennen, die er den Kreisen zugeordnet visualisiert. Die Visualisierung bildet die Basis für die weitere Konfliktbearbeitung.

 

"Visualisierung eines Gruppenprozesses"


Recht anspruchsvoll ist das Erstellen von Verlaufsprotokollen von Diskussionen. Das heißt: Während die Gruppe über ein Thema diskutiert, „dokumentiert“ der Leiter die Argumente und gegebenenfalls Emotionen in der Diskussion auf einer anfangs leeren Pinwand. Soweit möglich, strukturiert er die Beiträge, indem er Abhängigkeiten und Schlussfolgerungen visualisiert. Dabei lässt er der Diskussion einen möglichst freien Lauf und schaltet sich nur ein, wenn er einen Beitrag nicht verstanden oder verpasst hat.

Diese Anwendung setzt eine gewisse Routine des Leiters mit dem Simultan-Visualisieren voraus, denn er ist allein für das treffende Verkürzen von Beiträgen und das Visualisieren von Zusammenhängen zuständig. Während er einen Beitrag notiert, hört er den nächsten, um diesen danach zu visualisieren. Und am Ende enthält das Verlaufsprotokoll alle wesentlichen Argumente der Diskussion – zum Beispiel im Vorfeld einer Entscheidung.

 

"Visualisierung der Verlaufs einer Diskussion und der verschiedenen Positionen"

Wie wirkt Simultan-Visualisieren?

Die besondere Wirkung des Simultan-Visualisierens in Veranstaltungen wie Projektmeetings beruht auf einer Art Stereo-Effekt: Hör- und Sehsinn werden gleichzeitig bedient. Die Methode wirkt dadurch fesselnd; Lernen und Behalten werden gefördert. Zudem erzeugen die Visualisierungen Transparenz, was verbindlichkeits- und akzeptanzfördernd, aber auch polarisierend wirken kann. Denn bildhafte Darstellungen zeigen Zusammenhänge auf, und in Worten visualisierte Beiträge erhalten eine höhere Bedeutung. Zudem adressieren eine gekonnte Strichführung, ein geschickter Einsatz von Farben und Formen sowie ansprechende, bildhafte Darstellungen die rechte Hirnhälfte, die unsere künstlerisch-emotionalen Fähigkeiten repräsentiert. Dadurch werden die Fantasie und Kreativität der Gruppe stimuliert.

Simultan-Visualisierungen verbessern zudem die Gesprächsatmosphäre – weil der Gesprächsprozess zugunsten seiner Qualität verlangsamt, und statt der beteiligten Personen das Thema in den Mittelpunkt des Dialogs gerückt wird. Deshalb eignet sich die Methode außer zum situativ­spontanen Darstellen und Erklären komplexer Sachverhalte auch als Klärungsinstrument und zum Moderieren schwieriger Gruppensituationen. Damit wird das Simultan-Visualisieren zu einem mächtigen Führungsinstrument.

Zum Autor: Michael Schwartz leitet das ilea-Institut für integrale Lebens- und Arbeitspraxis, Esslingen bei Stuttgart (www.ilea-institut.de). Der Diplom-Physiker arbeitete vor seiner Beratertätigkeit fast zwei Jahrzehnte als Führungskraft sowie Projektmanager in der (Software-)Industrie.

Hinweis: Am 18./19. September veranstaltet das ilea-Institut für integrale Lebens- und Arbeitspraxis in Weinstadt (bei Stuttgart) ein offenes Seminar „Simultan visualisieren in der Projektarbeit“. Nähere Infos finden Interessierte im Veranstaltungskalender auf der Webseite www.ilea-institut.de .

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